short stories: Lorenzo und die Sterne

Clara Mavellia

Wenn der Vater frühmorgens mit dem Fuhrwerk unterwegs war, nahm er den Jungen manchmal mit. Er leistete ihm Gesellschaft und konnte auch schon beim Füttern und Pflegen der Pferde helfen.

Der Junge, Lorenzo, liebte die Fahrten: Er lag auf einem Strohsack und wenn er nicht schlief, konnte er die Sterne beobachten. Manchmal malte er sich Geschichten über das Leben auf fernen Planeten aus und träumte davon, eines Tages dorthin zu gelangen.

Der Vater ärgerte sich, wenn er vor sich hin träumte, er solle lieber laut und stark sein und die anderen Jungs anführen.

Mit sechs fing er an, nach der Schule für etwas Geld im Barbiershop zu helfen, auf Befehl Haarbürsten zu reichen und Haare wegzufegen. Häufig war er nicht schnell genug, dann gab es Geschimpfe oder einen Klaps auf den Kopf. Deswegen hatte er immer Angst auf dem Weg zur Arbeit; aber zurück nach Hause konnte er auch nicht, dann würde ihn Vater schlagen, und das jagte ihm mehr Angst ein.

Das Gute am Laden waren die Zeitungen, die herumlagen, sogar manchmal ein Exemplar der ersten italienischen Illustrierten mit nie davor gesehenen, faszinierenden Bildern, er konnte noch nicht lesen, aber die dargestellten Zeichnungen und Figuren reichten aus, um seine Phantasie schweifen zu lassen.

 

Er liebte die Schule und verehrte seinen Lehrer Don Attilio. Tatsächlich war Vater nicht in der Lage, für Lorenzo Schulbücher zu kaufen, aber der Lehrer besorgte immer einzelne gesammelte Buchseiten und Hefte für ihn.

Tag für Tag eröffneten sich ihm neue Welten und Horizonte, er konnte sich nicht satt hören und lesen an Geschichte, Arithmetik, Grammatik und allem anderen. Er spürte die Kraft von Wissen und Bildung. Ohne richtige Bücher und ohne richtige Kleidung oder Schuhe schaffte er aber trotzdem immer die besten Noten.

Am letzten Tag der Grundschule war er vom Abschied des Lehrers so berührt, er küsste seine Hand.

Der Lehrer Don Attilio fand auch keine Ruhe, Lorenzo war so begabt und wissbegierig, er musste unbedingt weiter zur Schule gehen können. Die Zeiten waren schwierig, diese komischen Faschisten mit ihren schwarzen Hemden schwadronierten herum, es ließ sich kein Stipendium finden. Don Attilio beschloss, selber für die weiterführende Schule von Lorenzo aufzukommen.

Als der Vater das Zeugnis von Lorenzo in der Hand hatte, musste er den anwesenden Podestà bitten, es ihm vorzulesen, er war nämlich Analphabet. Andererseits war es eine Genugtuung, es selbst diesem faschistischen Bürgermeister zu zeigen, dass sein Sohn ein Diplom hatte.

Aus Mailand hatten Verwandte angeboten, den Jungen bei sich aufzunehmen, er könne dort bestimmt rasch einen Job finden.

Mit dem wie damals üblich fest geschnürten Koffer machte sich Lorenzo auf in den Norden, genauso wie in seinen Kindheitsträumen. Er wollte schnell Geld verdienen und Mutter, Vater und die weiteren fünf Geschwister unterstützen.

Bei der Verwandten hatte er ein schmales Bett in einer Ecke unter den Treppen, in einer Druckerei fand er die erste Arbeit. Er gewöhnte sich daran, weit weg von der Familie zu leben, aber die Kälte machte ihm noch lange zu schaffen.

Bald wurde es noch schlimmer: Mit dem Krieg wuchsen die Sorgen und die Ängste, er konnte kaum noch etwas zu der Familie schicken, erst recht konnte er nicht von der Angst erzählen, und mit den Bombardements wurde die Angst eine ständige Begleitung, er lernte, sie herunterzuschlucken, sich stark und bestimmt zu geben.

Als er 18 wurde, wurde er einberufen. Er zog nach Bologna, wo die für ihn zuständige Kaserne für Rekruten stand. Er mochte weder die herrische Atmosphäre, zumal er als Neuling ganz unten auf der Skala lag, noch die übertriebene Disziplin, die peinlich darauf Wert legte, wie gerade das Kissen auf dem Bett lag. Er begriff aber, dass das notwendig war, um das Ganze am Laufen zu halten.

Kurz nach dem 8. September 1943, als Italien den Waffenstillstand mit den Alliierten proklamierte, wurde er mit allen anderen Kommilitonen von den nun feindlichen Deutschen in Gefangenschaft genommen und zum KZ Sachsenhausen in der Nähe von Hannover abgeführt.

 

Exkurs:

Das Oberkommando der Wehrmacht hatte eine solche Entwicklung bereits Anfang 1943 befürchtet und im Verlauf des ersten Halbjahres 1943 deutsche Truppen strategisch auf alle Regionen Italiens verteilt. Dies sollte den schnellen Erfolg der Operation sicherstellen.

 

Der Generalfeldmarschall Albert Kesselring – als Oberbefehlshaber Süd fiel der Fall Achse in seinen Befehlsbereich – leitete die Operation ein, bei der die Deutschen alle italienischen Verbände entwaffneten.

Mit der Durchführung der Operation in Norditalien wurde Generalfeldmarschall Erwin Rommel betraut.

Am 10. September besetzten deutsche Truppen Rom und am 12. September gelang es einem deutschen Fallschirmjäger-Kommando, Mussolini aus seiner Gefangenschaft zu befreien –  d. h. Unternehmen Eiche. Mussolini wurde nach Ostpreußen gebracht; er übernahm wenig später die Leitung einer Marionettenregierung in Norditalien – Repubblica di Salò genannt, und setzte den Kampf an deutscher Seite fort. Auch am 10. September okkupierten deutsche Heeresgruppen die sog. Operationszone Adriatisches Küstenland sowie die Operationszone Alpenvorland, die kurz darauf in die Republik von Salò eingegliedert wurden.

 

Das schlimmste an einem KZ in Norddeutschland war für Lorenzo nicht die Kälte, obwohl er immer fror, nicht der Hunger, obwohl sein Magen ständig verkrampft war, sondern der Durst. Wer es nicht mehr aushielt, der trank sogar den eigenen Urin. Das Essen bestand meistens aus Kartoffelschalen, Räume und Betten waren knapp, kalt und dreckig, und an körperliche Hygiene war nicht zu denken.

 

Lorenzo magerte ab, bekam Fieber, aber er wollte leben, er wollte nach Hause, seine Leute sehen, seine Sprache sprechen… Mit drei weiteren Gefangenen versuchte er zu fliehen, sie liefen nachts, und tagsüber versteckten sie sich.

Eines Nachts gelangten sie in eine Werkstatt, in einer Ecke standen Flaschen, gierig tranken sie daraus. Es war Motoröl, ihm wurde schlecht, sie wurden entdeckt und in eine Zelle gebracht.

Am nächsten Morgen öffnete die Wache die Zellentür, Lorenzo und die anderen sprangen auf, krank vor Angst: Würden sie jetzt getötet werden? Da stand ein Wehrmachtsoffizier und sprach auf italienisch, sie können sofort nach Italien zurück, wenn sie für die Repubblica di Salò kämpften, sie sagten zu.

 

Als Lorenzo mit dem deutschen Transport in Turin ankam, war er fast bewusstlos. Das nicht behandelte Fieber und die weiteren Strapazen wuchsen zu einer Lungenentzündung, deshalb wurde er gleich ins Krankenhaus gebracht. Als er wieder einigermaßen gesund war, wurde er zu den Alpini (den Gebirgsjägern) eingeteilt.

 

Lorenzo kannte sich mit Olivenhainen und Salinen aus, war überhaupt nicht sportlich, vor dem Wald hatte er nur Angst. Und überhaupt, er hatte den Krieg und die Deutschen einfach satt! Heimlich freundete er sich mit den Partisanen an, er wusste, wo einige Verstecke waren, und brachte ihnen, was er aus der Kaserne entfernen konnte. Es war ihm langsam alles egal, selbst die Angst.

 

Es dauerte nicht lange, und der Krieg war vorbei. Als Mussolini in Mailand, Piazzale Loreto, kopfüber hing, stand Lorenzo in der Menge und schaute zu. Der Krieg war vorbei. Aber wie war das Leben ohne Krieg?

 

Kurze Zeit später starb Lorenzos Vater. An einer aus heutigen Sicht blöden Zahnentzündung. Die Alliierten hatten zwar schon Penicillin, aber unter den chaotischen Umständen dauerte die Lieferung lange, und als das Antibiotikum da war, war der Alte bereits tot.

 

Lorenzo war nun das Familienoberhaupt.

Er ging zurück nach Mailand, fand eine Wohnung und ließ Mutter und Geschwister nachziehen. Nun wollte er arbeiten und studieren.

 

In der Nachkriegszeit erstarkte die Lust am Leben wieder, neue Geschäfte und Tanzlokale wurden eröffnet, Firmen gegründet. Lorenzo war nun Bankangestellter, Abends studierte er Wirtschaft an der Universität. Zuhause hatte er das Sagen, damals bestimmten Männer was in der Familie passierte, und wenn der Familienvater starb, eben der älteste Sohn.

Beatrice, die jüngste Schwester, war eine wahre Schönheit, wo immer sie lief, zog sie alle Blicke auf sich. Weg vom Dorf, genoss sie das Leben in Mailand und die neue Freiheit der großen Stadt, auch sie hatte entdeckt, wie wichtig Bildung ist. Sie wollte unabhängig sein, hier eigenes Geld verdienen und nicht nur auf einen Ehemann warten. Sie beschloss, eine Berufsschule zu besuchen, aber zum Einschreiben brauchte sie die Einwilligung des Familienoberhaupts. Sie fragte Lorenzo und er sagte nein.

 

Er hatte Angst vor ihrer Freiheit.

Lorenzo war ein richtiger Mann geworden.

 

Clara Mavellia

Berlin, 03.10.2019

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