short stories: Party in Berlin Mitte

im April 2009

 

An dem kalten Aprilabend dämmerte es schon und Pia lag eingekuschelt auf ihrer Couch: Sie hatte überhaupt keine Lust, aber sie musste hin zur Party von Anastasia Du Chapeau Rouge, Nastja für den engeren Kreis. Nicht hinzugehen würde bestimmt als Affront gedeutet. So zwang sich Pia aufzustehen und sich frisch zu machen; sie zog etwas Festliches an – schwarz in schwarz – die Farbe allein galt in Berlin als Festliches. Als gebürtige Florentinerin hatte sie Farben gern – die Bilder von Botticelli, Giotto, Leonardo u.v.a. begleiteten ihre Kindheit – nun, in Berlin hatte man es ohnehin schwer mit der Ästhetik. Wie auch immer, sie zog das schwarze Oberteil und einen engen Rock, auch schwarz, an, dazu schwarze Strümpfe und schwarze Pumps. Die Farbe ihres Mantels passte sich an. Kurze Zeit später lief sie zum Auto und fuhr los Richtung Mitte. Hastig gab sie Gas, eine Nastja Du Chapeau Rouge konnte sie nicht warten lassen!

Sie war nett gewesen als sie sich vor einigen Wochen bei der ersten Eröffnung des Neuen Museums kennengelernt hatten, bei der Show von Sasha Walz und ihren großartigen Tänzern und Musikern, die das leere und zauberhaft schöne Museum eingeweiht hatten. Als es sich herausstellte, dass Nastja klug und interessant war, zeigte Pia ihre angenehme Seite bzw. gab ihr die soziale warme Schulter. Die Schöne kam aus Düsseldorf und war Klavierspielerin; als sie sich eine Hand bei einem Unfall schwer verletzte, konnte sie keine Konzerte mehr geben. Ohne lange zu überlegen, studierte sie, um Dirigentin zu werden und auch in diesem Beruf wurde sie erfolgreich. Zudem hatte sie ein für deutsche Verhältnisse bezauberndes Kleid an, was das Herz der visuell verwöhnten Pia höher schlagen ließ. Gleich am selben Abend erhielt Pia eine supernette Mail von Nastja und, wie es im Berliner Leben Usus, nahm etwas seinen Lauf, was eine „one and only“ Freundschaft bis zum „only one cup of coffee“ Treff werden würde:  Einige Tage später im Café Einstein UdL sich für eine Melange verabreden, daraufhin einige nette Mails und Sms austauschen und nun war sie auf den Weg nach Berlin Mitte, um Nastjas Einzug in einer ultraschicken Altbauwohnung zu feiern.

Eigentlich konnte Pia nicht verstehen, warum so viele nach Ostberlin wollten. Sie war mit Leib und Seele Westberlinerin, ihr war Ostberlin immer noch suspekt; jahrelang verfuhr sie sich immer, wenn sie dahin musste und zwar nicht nur, weil überall die riesigen Krater und die Baustellen, die die Wende mit sich brachte, waren. Als sie das erste Mal nach Ostberlin fuhr, dachte sie, auf einen anderen Planeten gelandet zu sein: Verkommene Häuser, Benzingestank, schwache Straßenbeleuchtung und die wenigen Menschen, die unterwegs waren, blickten verängstigt und liefen hastig irgendwohin!

Vor der Wende war sie nur dann „drüben“ gewesen, als Besuch aus Italien kam. In solchen Fällen war die obligatorische Runde angesagt – Kreuzberg, Philharmonie, Brandenburger Tor und herüber durch den Check Point Charlie – damit mal Freunde mal Verwandte das schrille Kreuzberg, die klassische Musik bei superber Akustik und die sinistere kommunistische Atmosphäre erleben dürften: Die Schikanen am Check Point Charlie, der Übergang für Ausländische Besucher (die deutschen Freunde mussten einen anderen Übergang verwenden) wo die Vopos mit verspiegelten Böden und eisigen Gesichtsausdruck die Fremden begrüßten. Man erhielt 25 DDR Mark für 25 D-Mark und konnte damit Drucke von Prag und marxistische Literatur kaufen. Als sie mit der Familie ins Café an der Oper ging, um einen aus den vielen leckeren Kuchen im Schaufenster kosten zu können, erfuhren sie, dass alles nur Pappmaché sei, tatsächlich gäbe es nur eine Sorte Kuchen. Danach warteten sie solange, bis Vater klagte, in Deutschland würde er immer hungern, wie damals während des Krieges, als er auf der Flucht Richtung befreites Süditalien von den Deutschen gefangengenommen und nach Deutschland abtransportiert wurde, wo er in ein Lager kam, dessen Namen überhaupt  nicht auszusprechen war. Ein Onkel übrigens war solange in einem Lager in der Nähe der polnischen Grenzen interniert, dass er Zeit hatte, zwei Kinder mit einer Polin aus der Nachbarschaft zu zeugen. Wieder zu Hause, heiratete er seine italienische Verlobte, d.h. Tante Ada,  eine bis ins greise Alter höchst eifersüchtige Frau, die deshalb nie von den zwei halbpolnischen Kinder ihres Mannes erfahren sollte.

Während Vater da saß und die alten, traumatischen, tausend Mal gehörten Erlebnisse erzählte, erstarrte die Familie. Eine Tür wurde zugeschlagen und ein kalter Luftzug war zu spüren. Plötzlich erschauderten sie alle: Ob sie je wieder nach Hause fahren könnten?

Herrgott, das war auch wieder über zwanzig Jahre her und das andere 60 Jahre vorbei, nun sollte sie endlich diese verflixte Bergstrasse finden, zwischen Torstrasse und Invalidenstrasse. Moment mal, sie war schon mal da gewesen, gleich nach der Wende war eine Freundin dort hingezogen, sie war eine der ersten, die so mutig waren, es zu wagen! Bei den Parties verschwanden alle Alessi Küchenteile und einiges mehr, von da an schloss sie immer alles weg, bevor sie ihre Freunde einlud. Freunde?!

Damals war hier alles Pechschwarz, die Häuser, die Strasse, nicht mal eine bunte Werbefläche und nun .. das ist ja wahnsinnig schön geworden, die Invalidenstrasse, alles aufwendig renoviert oder besser restauriert, die Straßenbahn .. Hier steht der Nordbahnhof, hier also musste er sein, ah rechts geht es in die Bergstrasse und die Hausnummer 9: Nastja nennt glatt die ganze dritte Etage ihr Eigenes!

Bereits der Eingang war außergewöhnlich, Meereswellen aus tausenden schimmernden Steinchen rollten und stürzten an Wänden und Boden und falls das Mosaik nicht deutlich genug war, der Sound der Wellen bei der Brandung war zu hören – eine New Age Komposition? Wenn man sich konzentrierte, würde man es auch riechen, das Meer, und bestimmt die Linguine allo scoglio, ihr Lieblingsgericht .. aber sie driftete wieder weg. Als man ihr die Tür öffnete, sah sie erst nur die hellen, weiten Räume, die Partygeräusche. Nastja begrüßte sie freundlich, zwang ihr ein Getränk auf, zeigte ihr das Buffet, die Küche und das Bad und verschwand. Pia blieb stehen mit dem Glas in der Hand, in der Situation, die sie tausendmal erlebt hatte, trotzdem jedes Mal eine Tortur war – und der Wein war ungenießbar! Ohne auf die Menschen zu achten, die überall in kleinen Cluster herumstanden und sich scheinbar prächtig unterhielten, lief sie Richtung Küche, um sich einen neuen Wein zu holen. Dort, auf der futuristisch wirkenden Arbeitsplatte reihten sich an die hundert Weinflaschen; während sie überlegte, welche würde am besten schmecken, suchte sie zuerst in dem Schrank, dann in der Spüle nach einem Glas. Ein Arm schlenderte um ihre Taille, ein Mann, ein fremder Mann, küsste sie an der sensible Stelle zwischen Ohr und Haaransatz. Vor Angst, Überraschung und sogar Freude zückte sie zusammen.

„Was soll das!“ schrie sie und schubste den Mann weg. Der Typ fing an zu reden, und während er auf sie einredete, schienen ihm die Armen schneller nachzuwachsen als sie sie wegschieben konnte.

„Lässt du mich wenigstens etwas trinken? Ich suche ein Glas. Weißt du wo die Gläser sind?“

Groß, schlank, blaue Augen, schwarzer Anzug, schwarzer Pulli – der Mann schaute sie bewundernd an und mit der Hand berührte er ihre Wange.

„Du bist soo schön!“

„Ok, ok. Alles in Ordnung mit dir? Wo ist deine Frau?“

„Sie will sich scheiden lassen!“

„Was hast du falsch gemacht?“

„Alles ..“

Von der Seite drückte er sie fest, sie fühlte seinen Steifen und drehte sich schnell weg, öffnete den Kühlschrank, um hinter der Tür Schutz zu finden.

„Hol mir bitte ein Glas!“ sprach sie mit der festen Stimme einer deutschen Ehefrau.

Etwas bewegte sich in ihm: Er holte ein Glas, gab sich Mühe, eine Flasche zu öffnen und das Glas zu füllen, dann bot er ihr an.

„Auch dieser Wein ist ungenießbar“, teilte sie ihm streng mit.

Während er es in einem Zug trank, lief sie aus der Kühlschrankecke Richtung Tür und ging sie schnell raus aus der Küche. Das riesige Wohnzimmer war leer wie ein Becken – keine Möbel, keine Stühle – und wie in  einem Becken waren Fische überall. Kleine Fische, große Fische und Haifische. Oh Gott! Alle Haifische von New Berlin waren da: Der ausgemergelte Organisator der Fashion Week und seine übergewichtige Sozia, wegen ihrer Härte die Heidi Klum von Gleisdreieck genannt, unterhielten sich mit ihren Freunde vom BDI; Britta Fuß, die strenge Künstleragentin, die wie immer eine graue Mütze, bis vor den Augen, an hatte und da drüben, war der nicht der RA, der der Mörderin des Prinzen zum Freispruch verholfen hatte? In der Mitte, unter dem Kronleuchter, vergnügte sich die linke Nomenklatura, um den Regierenden versammelt; Galeristen und Modedesigner, die neuen Stars der Stadt, tagsüber geschäftlich unterwegs zwischen Borchardt und Grill Royal, lachten mit den Jungs um den FDP-Chef. Ob es ihm gelingen würde, nach der Wahl im September der neue Außenminister zu sein?

Pia ging in die Küche zurück und ließ sich noch einen Wein einschenken.

 

 

Clara Mavellia

3.10.09

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