Short stories: Ventotene

Clara Mavellia

Sommer 2003

 

Urlaub auf Ventotene und September 11th

 

Ventotene, Mittagszeit – I

 

Der Alte sitzt gerade am Tisch, die Tischdecke von einem etwas dunkleren Blau als sein frisch gebügeltes Hemd.

Ein Mann fragt ihn im Vorbeigehen, wo sein Sohn sei.

Er stellt die Frage nochmal, lauter und näher am Ohr. Beim fünften Mal erreicht die Frage den Alten.

„Mein Sohn? Ja, ja, es geht ihm gut. Er ist unten, am Hafen!“

„Es ist windig heute“, fügt der Mann hinzu.

„Ja, zu windig hier. Besser ich setze mich darüber.“

„Lehnt Euch an mich, ich helfe Euch!“

Der Alte bewegt sich mit kleinen Schritten zum anderen Ende des Tisches, vom Wind geschützt, und setzt sich hin.

Der Alte sitzt, nun vom Wind geschützt, und wartet auf das Mittagessen im Restaurant auf der Piazza Grande der italienischen Insel Ventotene. 

Zwischen den Tischen laufen die Leute vorbei, die vom Strand kommen, mit Tüten, Sandalen, roten Gesichtern und zerwühlten Haare. Sie mischen sich unter der geschäftigten Insulaner, die in den wenigen Wochen Hochsaison das Geld für den Rest des Jahres eintreiben sollten.

Zwei Männer unterhalten sich mit dem Ortspolizisten: „Wollen wir zusammen  Mittag essen?“ Welche Geschäfte sollen dabei besprochen werden?

Ein paar Minuten vor dem Mittagsessen auf Ventotene.

Auf die Schnelle läuft ein älterer Mann über die Piazza, in der Hand hält er eine kleine durchsichtige Plastiktüte mit einer frischen Mozzarella und geht durch die grüne Tür neben dem Restaurant.

Eine größere Gruppe nähert sich, man hört englisch, italienisch, deutsch. Zwei größere Tische werden gedeckt. An einem setzen sich Kinder, einige davon sind behinderte Kinder.

An den anderen Tisch setzen sich die Erwachsenen. Ein Italiener unterhält sich auf italienisch und bespricht die Frage, ob Pasta Corta (d.h. penne, tortiglioni, u.ä.) oder Pasta Lunga (tagliatelle, spaghetti, linguine, etc.) am besten wären.

Eine deutsche Frau fragt laut: „Geht die Rechnung zusammen?“ Sie möchte nämlich der Bezahlungsart noch vor der Bestellung sicher sein.

Eine deutsche Kindertherapiegruppe und eine italienische Familie essen miteinander in der italienischen Hitze.

Der Alte isst ruhig seine „Linguine allo scoglio“. Ab und zu wirft er einen Blick zu den Kindern.

Eine kleine Katze rennt zwischen den Tischen. Plötzlich bleibt sie stehen, geht zwei Schritte zurück, dreht sie sich ganz um und rennt weg.

Ein großer Hund ist da, die Piazza ist für einen Augenblick katzenfrei.

 

Ventotene, Mittagszeit II

 

Auch heute trägt der Alte ein blaues Hemd, etwas heller als die Tischdecke.

Auch heute bezahlt er 9 Euro für sein Essen, eine Suppe mit kleinen Brotstücken.

Römer sitzen am Tisch nebenan und reden über den Film, der gestern auf der Insel im Freiem gezeigt wurde. Ein Film über die Schwierigkeiten von Behinderten im Alltag.

„Der Schauspieler war auch in einer Episode von `Sept. 11th´ zu sehen“, sagt eine Frau.

„ Ein wunderschöner Film“, erzählt sie weiter „sehr rigorös, ohne rhetorische Umschweifen.“ Sie überlegt kurz. „Zum Beispiel die Episode mit der Italienerin, einer Taubstumme, die sich in einem Mann aus New York verliebt und bei ihm einzieht. Man sieht, wie der Mann morgens weggeht und sie ihren Vormittag mit den wahrscheinlich üblichen, ruhigen Beschäftigungen füllt. Von der Katastrophe kriegt sie nichts mit, bis ihr Freund wiederkommt, mit Staub völlig bedeckt.“

Der Ehemann, auch Römer, bestätigt die Wirkung der Episode.

„Aber am Wirkungsvollsten war die Episode mit Ernest Borgnine“, führt die Römerin fort, „Heißt er so?“ Ihr Mann bestätigt:“ Ja, Ernest Borgnine, der alte Schauspieler!“

Die Frau aus Rom erzählt weiter:  „Jedenfalls, der uralte Schauspieler wohnt schon immer in Manhattan. Seit längerer Zeit ist er Witwer, redet aber weiter mit seiner Frau, während er durch die Wohnung läuft und seinen alltäglichen Beschäftigungen nachgeht. Plötzlich werden Teile der Wohnung von Licht durchflutet, nachdem die Twin Towers abgestürzt sind. Nur das, die fehlenden Towers haben das Licht nicht mehr abgeschirmt. Aber es reicht völlig.“

Bei der Unterhaltung am Nebentisch entsteht eine kleine Pause. Mit einem Blick auf die Piazza vergewissert man sich, dass man noch am Leben ist, der Spuk vorbei.

„Was essen wir heute?“, am Nebentisch nimmt die Unterhaltung eine neue Richtung.

Der Alte steht auf, hat fertig gegessen und läuft mit kleinen Schritten, ohne die Füsse hochzuheben, Richtung Siesta.

Sein Tisch wird aufgeräumt und frisch gedeckt.

Wenig später setzt sich ein junges Paar. Das Mädchen trägt ein hellblaues T-Schirt, etwas heller als die Tischdecke.

 

Ventotene, Mittagszeit  –  III

 

Der Alte mit dem hellblauen Hemd sitzt auch heute gerade und wartet auf das Essen.

Heute ist es heiß.

So heiß, dass der Schweiß über das Gesicht läuft und von Kinn hinuntertröpfelt, mal auf die Schulter, mal auf die Brust.

Die Hitze steht, sammelt sich um den Körper und verbreitet sich.

Jede Bewegung verschlimmert das brennende Gefühl.

Die totale Stille ist die einzige Rettung. Der Körper wird hitzebeständig, die Schweißtropfen fließen langsamer, von der Stirn über die Schläfen bis unter die Nase. Über den Mund kann man ihn noch wegwischen.

Udai und Usai, die Söhne von Saddam Hussein, sind tot.

Fernsehen und Zeitungen zeigen die Photos.

„Il Manifesto“ zeigt zwei leere Vierecke mit dem Untertitel: „Die Trophäen von Busch“

In der Hitze flimmert die Luft, die Helligkeit blendet.

 

Der Alte isst heute wieder mal „Linguine allo Scoglio“ mit Muscheln und Miesmuscheln.

Eine Frau, die vorbeiläuft, begrüßt ihn.

Er fragt sie, ob sie die Unterhemden mit kurzen Ärmeln schon bekommen hat.

„Ja, aber sie sind noch in den Kartons.“

Er fragt erneut, sie antwortet, bis ihre Antwort ihn erreicht. Sie verspricht, die Kartons zu öffnen und zu schauen, ob die von ihm gewünschten Hemden mitgeliefert wurden.

Sie wiederholt ihr Versprechen mehrere Male. Und dass sie die Hemden hierher bringen werde.

Sie geht.

Sein Essen kommt.

Vorsichtig öffnet er die Muscheln und führt sie in den Mund. Dann und wann ein Schluck Wasser.

Eine kleine Katze läuft hoffnungsvoll um den Tisch.

Eine warme Brise umschmeichelt Beine, Arme und Gesicht.

Der Schweiß kühlt kurzweilig ab, aber die Schwere kehrt schnell in den Körper zurück.

Der Alte bezahlt 10 Euro für sein Essen und geht. 

Die Katze legt sich enttäuscht im Schatten hin.

 

Ventotene, Mittagszeit – IV

 

Heute sitzt der Alte an einem ungedeckten Tisch.

Wir fragen, ob wir uns dazu setzen dürfen.

Er antwortet, er habe einen Termin um 13 Uhr.

Er fragt uns nach der Uhrzeit, keiner hat sonst eine Uhr.

Wir zeigen ihm die Uhr. Es ist 10 vor 13 Uhr.

Der Alte spricht mit dem Kellner: “Wenn jemand kommt und nach mir fragen sollte, lass` dir erzählen, was er will und du sagst es mir morgen. D`accordo?“

„Natürlich, ich frage ihn, was er von Euch will und erzähle es Euch morgen!“

„Wenn eine Nachricht für mich da ist, sagst du es mir morgen?“

„Klar, Ihr könnt sicher sein, arrivederci!“

Der Alte verabschiedet sich und geht.

Ob er nächstes Jahr noch da sein wird?

 

Das  alte, kleine, bogenartige Tor, das bis heute als lange nicht mehr benutzt schien, geht plötzlich auf. Der junge Mann in kurzen Hosen mit dem Sonnenhut hält nur einen alten riesigen Schlüssel in der Hand.

Er zieht die Tür hinter sich, bis sie einrastet, und geht.

Wenig später steht er wieder vor dem Tor, steckt den riesen Schlüssel ins Schloss, und nach einen lauten „Klack“ geht die Tür auf und er hinein.

Für einen Augenblick kann man eine lange, steile Treppe sehen.

 

Eine vierköpfige Familie setzt sich zum Essen.

Eine Katze dreht einen engeren Kreis um die neuen Ankömmlingen. Und tatsächlich, kaum ist die „Antipasto di mare“ für 5 Euro auf dem Tisch, lässt sich das Mädchen aus der Familie das Herz erweichen und legt vorsichtig ein kleines Stück Tintenfisch auf den Boden.

Die Katze wartet kurz, ein Schritt entfernt, dann springt sie schnell und schnell ist der Fisch weg.

Das Mädchen legt noch mehr Fisch hin.

Die Katze ist schon weg, die Angst ist nun grösser als der Hunger.

 

Ventotene, Mittagszeit – V und Abschied

 

Heute Abreisetag.

Der Alte isst Linsenssuppe (6 Euro), trinkt einen Schluck Wasser und rülpst.

                                                  

Clara Mavellia

Sommer 2003       

Top